Polarität der Farbe
Farbe gehört nicht als Eigenschaft zu einer bestimmtem Form. Präsentiert sich Farbe ohne linearen Umriss, steht sie ausserhalb von Subjekt und Objekt. Farbe ohne Begrenzung ist rein theoretisch oder besteht einzig und allein als geistige Erscheinungsform. Schaffen wir Farbbezüge durch Komposition, Teilung und Zusammenschluss, wird die Eigendynamik der Farbe verwoben mit der Strahlungsenergie der umliegenden Farben. Durch ein mehrfaches Zusammentreffen von Farben entsteht ein Kräftegewebe, das je nach Komposition ganz unterschiedliche Energiemuster hervorbringt. Die Wirkung der Farbe ist nicht mehr eindeutig, da verschiedene Farbkonfigurationen vorhanden sind. Diese Konfigurationen der Farben äussern sich zum Beispiel als kontrastierend, harmonisierend, hervortretend, oder als gegenteilig. Abgrenzungen und Kontraste von Farben schaffen unterschiedliche Farbräume, das heißt die einzelnen Farben werden optisch nicht auf einer Ebene gesehen. Die in Beziehung gebrachten Farben bilden Farbzonen, bei denen die benachbarte Farbe im Sinne von "vorn" oder "hinten" räumlich bestimmt wird. Bei einer blockhaften Komposition mit gleichgroßen Farbflächen entstehen unterschiedliche Farbvolumen. So drängt sich z.B. ein rotes Quadrat in den Vordergrund und erscheint voluminös während ein gleichgroßes blaues Quadrat dagegen distanziert und eingeengt wirkt. Die Farben wirken nicht nur optisch gegensätzlich sondern auch empfindungsgemäß. Polare Farbempfindungen sind zum Beispiel warm-kalt, ruhig-aufregend, hervortretend-distanziert, aufdringlich-zurückhaltend u.s.w.
Unsere Sinnesorgane nehmen durch Vergleiche wahr. Darauf beruht auch die Wahrnehmung der Farbkontraste. Durch Farbkontraste bedingte Lichtschwingungen erzeugen Reize, die von unseren Sinnesorgane, als anregend-hemmend, harmonisch-disharmonisch, gross-klein, usw. wahrgenommen und empfunden werden. Jede Farbe besitzt eine artspezifische, psychoenergetische Schwingung. Neben den primären Farbklängen des Spektrums wird zwischen hellen- und dunklen, intensiven- und zarten sowie reinen- und getrübten Farben unterschieden. Das Aufhellen von Farben mit Weiß macht sie transparent und ätherisch; sie sind dispersierend, strahlend und nach aussen gerichtet und wirken leicht immateriell und feinstofflich. Farben, die mit Schwarz vermischt sind, strahlen wenig ab, sind verdichtend, stumpf und nach innen gerichtet; sie wirken absorbierend, grobstofflich und materiell.
Die Einteilung der Farbe in grobstofflich und feinstofflich führt zu einer Polarität bzw. zu einer Dualität; diese Gegensätze verleihen der Farbe ihre dynamische Qualität. Neben der dynamischen Qualität der Farbe gibt es eine psychoenergetische, die ganz unterschiedlich je nach Farbe auf unser Seelenleben einwirkt. Der Farbklang Grün ist dynamisch gesehen ruhig und unbewegt; er wirkt auf unser Innenleben als entspannend. Die Farbe Rot hingegen versetzt uns in Aktivität und Spannung. Positiv gesehen wirkt Rot auf uns belebend und und stimt uns unternehmungslustig: wir verspüren Freude, Lust und Leidenschaft. Negativ betrachtet, kann uns dieselbe Farbe irritieren: wir werden nervös, zornig und unbeherrscht. Das dunkle Blau richtet sich auf das Innenleben: wir empfinden Gelassenheit, Ruhe und Zufriedenheit. Negativ gesehen kann die gleiche Farbe uns in unserer Unternehmungslust und Aktivität hemmen. Je nach Farbe werden Stimmung und Eigendynamik ganz unterschiedlich beeinflusst.
Wenn sich die Unterschiede ins Maximale steigern spricht man von Polaritäten oder Kontrasten.
Auf die Farbe bezogen unterscheidet man folgende Kontraste:
- Farbkontrast (Farbe an sich Kontrast)
- Hell-dunkel-Kontrast
- Kalt-warm-Kontrast
- Komplementärkontrast
- Simultankontrast
- Qualitätskontrast
- Quantitätskontrast
Der Farbkontrast ergibt sich aus den reinen und ungetrübten Grundfarben in ihrer ursprünglichen Leuchtkraft. Gelb, Rot und Blau haben untereinander den stärksten Ausdruck des Farbkontrasts. Sie unterscheiden sich ganz klar voneinander. So auch Violett, Grün und Orange.
Der Hell-Dunkel-Kontrast äußert sich am stärksten bei Weiß und Schwarz. Sie sind in Ihrer Wirkung extrem entgegengesetzt. Dazwischen liegen unendlich viele Abstufungen von Grautönen. Zwischen Licht und Dunkel entstehen die Farben, die durch das Aufgehen der Sonne erstrahlen und das Untergehen der Sonne langsam erlöschen. Die Farben verändern sich je nach Beleuchtungsintensität. Die warmen Farbtöne Gelb, Orange Rot, Rotviolett, haben bei abnehmendem Licht die Tendenz dunkler zu erscheinen, während die kalten Farben Grün, Grünblau, Blau durch das dunklere Licht eher heller erscheinen. Durch Aufhellen oder Verdunkeln erweitert sich die Farbenskala in unendlich viele Abstufungen. Die reine gesättigte Farbe wird mit Weiss aufgehellt oder aber mit Schwarz verdunkelt. Der Farbkontrast verringert sich beim Aufhellen oder Verdunkeln einer Farbe durch Weiß, bzw. Schwarz. Wird ein Anteil Weiß oder Schwarz der reinen Farbe beigemengt, spricht man von einer gebrochenen bzw. getrübten Farbe.
Der Kalt-warm-Kontrast beruht auf der psychoenergetischen Empfindung einer Farbe. Die Temperaturempfindung differiert zum Beispiel zwischen einem orange gestrichenen Raum und einem blauen um ca. 4 Grad Celsius, das heisst die Kälteempfindung tritt beim orangen Raum erst bei 11-12 Grad Celsius ein, beim blauen Raum schon bei 15 Grad Celsius. Der Grund dafür mag sein, dass bei der Wahrnehmung von Rot sich der Blutkreislauf beschleunigt, während er sich bei Blau verlangsamt. Warme Farben sind Gelb, Gelborange, Orange, Zinnoberrot, Rot, Dunkelrot, Rotviolett. Kalte Farben sind Grün, Grünblau, Türkischblau, Ultramarinblau und Blauviolett. Warm-Kalt-Kontraste werden sprachlich noch auf folgende Art und Weise definiert:.
- luftig - erdig
- fern - nah
- leicht - schwer
- feucht - trocken u.s.w.
Diese anverwandten Kalt-Warm-Begriffe entstammen dem Bereich der Assoziationen, die wir erfahrungsgemäß zu bestimmten Farben haben.
Der Komplementärkontrast besteht aus zwei Farben, die sich im Farbkreis diametral gegenüberstehen. Im Nebeneinander steigern sich die Farben in ihrer Intensität und Leuchtkraft. Die Mischung jedoch vernichtet dieses Kräftepotenzial; es entsteht ein energieloses Grau das ganz neutral und unattraktiv wirkt.
Komplementärkontraste sind:
- Gelb - Violett
- Orange - Blau
- Rot - Grün
Der Qualitätskontrast ist der Begriff für die Farbqualität im Hinblick auf den Reinheits- und Sättigungsgrad der Farben. Der Qualitätsbegriff definiert sich weiter zwischen leuchtenden und stumpfen Farben. Bei der Lichtbrechung des Prismas entstehen Farben in Ihrer größten Reinheit und Leuchtkraft. Die Farben sind transparent und immateriell. Die Pigmentfarben sind von ihrem Ursprung her materiell. Reinheit und Leuchtkraft der Pigmente hängen von den Vorkommen in der Natur ab, oder sind Ergebnisse industrieller Farbgewinnung. Die Aufhellung oder Verdunkelung der Pigmente vermindert die ursprüngliche Leuchtkraft der Farben; sie verlieren dadurch an Qualitätskontrast.
Der Quantitätskontrast beruht auf dem Größenverhältnis - wie groß-klein, viel-wenig - der Farbpräsentation. Unter Quantitätskontrast versteht man auch die Leuchtkraft bzw. die Lichtstärke innerhalb des Farbkreises. Goethe hat folgende Licht-Zahlenwerte geschaffen, die die Leuchtkraft der Farben untereinander bestimmten. Gelb mit dem höchsten Zahlenwert 9 hat die höchste Lichtstärke, dann kommt Orange mit 8, Rot 6, Violett 3, Blau 4, Grün 6. Es ist die Frage ob man die Lichtstärke nicht besser dem Hell-dunkel-Kontrast der Farben zuordnet. Der Quantitätskontrast ist in erster Linie ein Proportions-Mengenverhältnis der Farben.
Die polaren Gegegnsätze der Farben bewegen sich in zwei Richtungen: Die warmen Gelb- und Rottöne kommen auf den Betrachter zu, die kalten Blautöne bewegen sich von ihm weg. Grün ist die Farbe der Mitte, sie bleibt sozusagen auf einer Ebene und wirkt als ein Ruhepol unter den sonst dynamischen Farben. Bei dem Hell-dunkel-Kontrast haben die hellen Farben eine Radiation nach außen, sind exzentrisch, wirken strahlend und emanent. Die dunklen Farben haben eine konzentrische Radiation nach innen, verschlucken das Licht sind absorbierend und von daher immanent. Diese äußeren Erscheinungsformen der Farben beeinflussen die inneren geistigen und empfindungsmässigen Farbwahrnehmungen. So wirkt zum Beispiel ein dunkles Blau auf den Betrachter kontemplativ, meditativ und introvert im Gegensatz zu Rot das ihn, aktiv, stimmulierend und extravert stimmt. Ein weiteres Kontrastpaar sind die unbunten Farben Schwarz und Weiß. Schwarz ist noch mehr als Blau eine absorbierende lichtschluckende Farbe, während Weiß noch mehr als Gelb reflektierend und abstrahlend erscheint. Auf unsere Empfindung wirkt Schwarz geschlossen, leblos, schwer, klanglos und verschwiegen; dagegen wirkt Weiß offen, belebend, leicht, immateriell und rein. Farben wirken in einer sehr viel tieferen Bedeutung auf das Innenleben als wir normalereweise im täglichen, unbewussten und oberflächlichen Kontakt mit der Farbe wahrnehmen. Die Farbphänomenologie polarer Gegensätzen wie zum Beispiel Steigerung-Abschwächung, Nähe-Ferne, Dynamik-Ruhe und die bereits oben beschriebenen Kontraste, die Transformation eines materiellen äußeren in einen immateriellen innern Farbeindruck erweitern das Farbbewusstsein des Menschen. Es ist jedoch notwendig, sich von alten Farbvorstellungen, Erfahrungen und Konventionen zu lösen, um dem fortschreitenden und stetig sich erneuernden Farbbewusstsein nicht im Wege zu stehen. Der äußere Farbreiz führt zu einer inneren, geistigen Anschauung und zu einer seelischen Empfindung. Um diesem psycho-physischen Eindruck Ausdruck zu verleihen bezieht man sich oft auf synästhetische Verküpfungen, die die Eigenschaft einer Farbe auf diese Weise umschreiben sollten. Man spricht zum Beispiel von Farbklängen, Farbharmonien, Farbkonsonanten-Dissonanzen, Farb-Vibrationen und Schwingungen, u.s.w. Diese synästhetischen Vergleiche zur Charakterisierung einzelner Farbqualitäten findet man in Kandinsky Schrift "Über das Geistige in der Kunst". Hier wird ein Bezug der Farben zu Klangfarben der Instrumente hergestellt:
Krapplack - mittlere und tiefere Töne des Cello.
Violett - Fagott, Schalmei.
Gelb - Trompeten oder Fanfarenton.
Helles Rot - Trompete.
Orange - Kirchenglocke oder tiefe Altstimme.
Zinnober - Tuba oder Trommelschläge.
Hellblau - Flöte
Dunkelblau - Cello, Bassgeige bis zur tiefen Orgel.
* Kandinskys Klangtheorie gründet zum einen auf eigenen synästhetische Erfahrungen, bezieht aber zum anderen zahlreiche andere Quellen ein, angefangen von der esoterischen Literatur der Chromotherapie und Aurakunde bis zu theosophischen und anthroposophischen Werken.
Vielleicht die wichtigste Quelle für Kandinskys Korrespondenztheorie, und für seine ganze Farben- und Kunstlehre ist in Goethes Farbenlehre zu finden. Die "Geschichte der Farbenlehre", die das ganze damals bekannte Material versammelt, lenkt Goethe im Teil II die Aufmerksamkeit auf den Farbenharmoniker J.L. Hoffmann, der in einer Tabelle Farben und Instrumente parallelisiert, wobei Gelb der Klarinette, Hochrot der Trompete, Purpur dem Waldhorn, Violett dem Fagott, Ultramarin der Viole und Violine entsprechen soll.
(*Hajo Duchting: Farbe am Bauhaus, Gebr.Mann-Verlag, Berlin1996).
© Franz Immoos, Amsterdam 2009
Die Farben: